„Wir müssen uns wieder mehr auf das Schöne fokussieren!“

Ein Jahr Corona-Pandemie hat tiefe Spuren hinterlassen: Viele Menschen sind psychisch stark belastet, wie eine repräsentative Studie zeigt. Im Interview erklärt der Psychiater Michael Musalek, was uns ganz besonders zusetzt – und wie wir aus dem Tief herauskommen. 

Kind in Sonne mit bunten Luftballons

Das Institut für Sozialästhetik und psychische Gesundheit der Sigmund Freud Privatuniversität Wien hat eine Studie zur psychischen Situation der Österreicherinnen und Österreicher in der Corona-Krise durchgeführt. Was sind die wichtigsten Ergebnisse?
Michael Musalek: Es hat sich gezeigt, dass es bei rund einem Viertel der Befragten durch diese Krise zu einer massiven psychischen Belastung gekommen ist. Ebenfalls ein Viertel der Befragten war von wirtschaftlichen Problemen betroffen oder hat diese befürchtet. Das Überraschende: Diese beiden Gruppen haben sich nur zu maximal 15 Prozent überschnitten. Die Menschen sind also nicht vorrangig wegen der – erwartbaren –wirtschaftlichen Belastungen psychisch belastet, sondern viel mehr durch die Maßnahmen, die in einer solchen Situation gesetzt werden müssen…. 

… und die trotzdem natürlich Nebenwirkungen haben.
Genau. Keinen Kontakt zu haben zu den liebsten Menschen, das trifft etwa besonders alte, allein lebende Menschen, dazu der Reiseentzug – das sind die Hauptgründe für die Belastungen. Wir wissen, dass wir Akutbelastungen sehr gut aushalten, während wir chronische Belastungen schlecht aushalten können. Wir sprechen von einer psychosozialen Pandemie, die sich nun – wie ich befürchte – ausweitet. 

Das heißt, dass auch psychische Leiden ansteckend sind? 
Richtig. Im Gegensatz zur viralen wird sich die psychosoziale Pandemie wahrscheinlich rascher ausbreiten und vor allem: Sie wird länger dauern. 

Woran lässt sich diese Belastung festmachen? 
Sie zeigt sich letztlich in drei Bereichen: Der eine ist eine Zunahme der Ängste. Der zweite betrifft eine erhöhte Reizbarkeit und Gereiztheit. Der dritte Bereich betrifft den sozialen Rückzug bis hin zu Verzweiflung und depressiven Zuständen. Das hat sich schon in der Befragung nach dem ersten Lockdown im Mai 2020 gezeigt.

Derzeit läuft eine Nachuntersuchung, die Daten dazu bekommen wir in rund einem Monat. Wir gehen aber davon aus, dass die psychische Belastung weiter gewachsen ist, da Menschen, wie gesagt, mit dieser langfristigen Belastung immer schlechter zurechtkommen.

Wir verlieren also auch unsere  Lebensfreude? 
Die Lebensfreude nimmt aus zwei Gründen ab. Zum einen erleben wir in Belastungssituationen insgesamt nicht so viel Lebensfreude. Zum anderen konzentrieren wir uns vollkommen auf die Krise und vergessen, was es alles an Schönem gibt. In der medialen Berichterstattung geht es zum Beispiel nur um COVID-19. Alle anderen Themen treten in den Hintergrund. Das führt dazu, dass wir uns nicht wohl fühlen. Vor allem hat es zur Folge, dass wir kraftlos werden. 

Indem wir uns nur auf das Problematische konzentrieren, schaden wir unserer Gesundheit also gleich mehrfach?
Genau. Das Schöne und die Freude sind immense Kraftquellen. Richten wir den Fokus darauf, wird auch unser Immunsystem besser und effektiver. 

Manche Menschen „therapieren“ sich selbst, indem sie Stimmungstiefs, Ängste oder Stress durch den Konsum von Alkohol kompensieren.
Exakt. Alkohol ist eine Substanz, die kurzfristig Angstzustände, Spannungszustände hemmt oder dämpft – wie ein Tranquilizer beziehungsweise Anästhetikum. Man spürt den inneren Schmerz weniger stark. Deshalb wird er eingesetzt und auch, weil er leicht verfügbar ist. Allerdings ist Alkohol in höheren Dosen und vor allem, wenn er regelmäßig konsumiert wird, eine depressiogene Substanz. Er fördert Depressionen. 

Der Beginn einer gefährlichen Spirale?
Richtig. Wenn wir in depressive Zustände gelangen, dann sind wir schon von banalen Situationen überlastet. Dadurch steigen der Spannungspegel und die Ängste. Damit braucht man wieder mehr Alkohol, der Konsum wird chronisch – das verschlechtert die Lage weiter. Gerade in Krisenzeiten ist es deshalb wichtig, möglichst keinen oder nur wenig Alkohol zu sich zu nehmen.

Besonders belastet sind jene, die in der Krise arbeitslos wurden oder in Kurzarbeit sind. Permanentes Arbeiten im Homeoffice kann aber auch Probleme verursachen? 
Ein Problem ist sicher der Verlust beziehungsweise die Bedrohung des Arbeitsplatzes. Das zweite Problem ist die Veränderung des Arbeitsplatzes. Wir können zuhause nicht wie früher und mit der gewohnten Struktur arbeiten. Das hat zum einen mit teils sehr beengten Wohnverhältnissen zu tun. Vor allem aber gibt es keine vorgegebene Tagesstruktur wie im Büro – mit klaren Arbeitszeiten, Pausen, Mittagessen et cetera. Die meisten schaffen es nicht, sich zuhause diese Struktur selbst zu schaffen. Diese Strukturlosigkeit wirkt sich im psychischen Bereich besonders stark aus. Man sollte sich also unbedingt Pausen und Erholungsphasen gönnen.

Sehr viele Indikatoren deuten auch darauf hin, dass im Homeoffice viel mehr gearbeitet wird als vorher. Weil man keine Grenzen hat und quasi die ganze Zeit arbeiten könnte und kann. Ein Burn-out entsteht aber nicht nur durch vieles Arbeiten, das Klima am Arbeitsplatz spielt ebenfalls eine Rolle. Wenn das Miteinander von Reizbarkeit und Überforderung geprägt ist, belastet das zusätzlich. 

Was sind die wichtigsten Zutaten, um die Krise als Gesellschaft besser zu handhaben?
Die allerwichtigste Zutat ist die Akzeptanz, dass eine Krise eine Krise ist. Nur, wenn ich etwas akzeptiere, kann ich dagegen etwas tun. Und natürlich müssen wir alle gemeinsam etwas gegen die Krise tun. 

Ganz wesentlich ist weiters: Wir brauchen eine gewisse Perspektive, aber keine falschen Erwartungen. Wenn uns gesagt wird, wir können demnächst dieses und jenes machen und das trifft dann nicht zu, dann kommt es zu einer Enttäuschung. Die Menschen haben das Gefühl, es wird ihnen etwas genommen, was sie fiktiv bereits hatten. Das ist besonders belastend. Man muss die Situation realistisch einschätzen und sehr aufpassen, keine falschen Erwartungen zu wecken.

Diese realistische Einschätzung sollte auch ehrlich vermittelt werden?
Ich vergleiche unsere Situation mit der zweiten Halbzeit eines Handballspiels, ungefähr zehn Minuten nach Beginn. Das ist eine besonders schwierige Zeit: Man ist schon müde, andererseits ist das Ziel noch relativ fern und man weiß auch nicht, ob es zu einem Nachspiel kommt. Dennoch ist man viel weiter als in der ersten Halbzeit. Um zu gewinnen, kommt es jetzt darauf an, dass wir gemeinsam das Teilziel erreichen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir dieses Spiel gewinnen werden...

... auch, wenn wir nicht genau wissen, wie lange es noch dauert.
Viel wichtiger, als dauernd auf das Ende des Spiels zu schauen ist, genug Kraft zu entwickeln, um das Spiel spielen zu können. Dazu müssen wir unseren Fokus verändern. Dann werden wir die Krise gemeinsam sicher auch bewältigen. Die Kraftquelle schlechthin ist das Schöne, ist die Freude. Umso wichtiger, im Alltag den Blick bewusst auch auf das zu richten, was schön und gut im eigenen Leben ist. Dieses Schöne ist für den einen eine sportliche Aktivität, für den anderen eine Meditation. Für wieder andere ist es das Musikhören, das Lesen oder die Kommunikation mit anderen Menschen.


Univ. Prof. Dr. Michael Musalek ist Psychiater und Psychotherapeut, Mitglied der Corona Task Force des Gesundheitsministeriums und Institutsvorstand des Instituts für Sozialästhetik und psychische Gesundheit an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien und Berlin. In einer aktuellen Studie hat das Institut die psychische Belastung der Österreicherinnen und Österreicher in der Corona-Krise erhoben.










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