Nachtzüge: Orient-Express auf Österreichisch

Ein Nachtzug ist eine klimafreundliche Alternative zum Flugzeug – kein Wunder, dass aktuell von seiner “Renaissance” die Rede ist.

Frau schläft in Viererabteil in Nachtzug
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Stellen Sie sich vor, Sie könnten sich teleportieren. Klingt das nicht wundersam komfortabel? In einem Moment sind Sie im verregneten Wien, im nächsten plötzlich in Venedig. Ganz im Stil von Star Trek geht es leider nicht. Aber wenn Sie ein bisschen mehr Zeit für Ihren Teleport mitgebracht haben, erfüllt vielleicht ein Nachtzug den Job.

In Ihren Nachtzug steigen Sie abends ein. Nach einem (hoffentlich) erholsamen Schlaf im Schlaf- oder Liegewagen kommen Sie rechtzeitig für Ihren Morgenkaffee am Markusplatz an.

Da Sie ohnehin irgendwann schlafen müssen (und wenn nicht, möchte unsere redaktionsinterne Gesundheitsabteilung gern ein Wörtchen mit Ihnen reden), sparen Sie sich so kostbare Zeit Ihres Urlaubs – und vielleicht eine Nacht im Hotel.

Gut zu wissen

Schlafwägen bieten gegenüber Liegewägen mehr Komfort und Privatsphäre, sind deswegen allerdings in der Regel auch teurer.

Nachtzüge: Eine rucklige Vergangenheit

So verlockend dieser Vorteil der Nachtzüge klingen mag, nicht alle sind überzeugt. Die Schweizerische SBB gab ihr Geschäft mit Nachtzügen 2009 auf und verkaufte es an die Deutsche Bahn (DB). Diese stieg im Jahr 2016 ihrerseits aus.

Grund seien die geringe Nachfrage und die damit verbundenen hohen Verluste gewesen. Gegen Billigflüge und Fernbusse fiel es den oftmals veralteten Nachtzügen nicht leicht, Kunden zu gewinnen und zu halten.

Die Nachtzüge wurden offenbar nur von einem Prozent der DB-Kunden genutzt. Statt in dieses “Nischengeschäft” zu investieren, konzentrierte sich die Deutsche Bahn lieber auf den Tagesbetrieb – denn davon hätten “99 Prozent unserer Fahrgäste etwas”, so eine Sprecherin.

Die Renaissance der Nachtzüge

Dafür haben die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) zugeschlagen. Sie kauften 57 Nachtzüge von der Deutschen Bahn und integrierten sie in ihr Nightjet-Netz. Das mag im ersten Moment wie reine Sentimentalität seitens ÖBB-Chefs Matthä, einem selbsternannten Nachtzugschwärmer, gewirkt haben.

Doch dahinter stand knallhartes betriebswirtschaftliches Kalkül. Die ÖBB konnte die defizitären Züge günstig kaufen, richtete sie wieder her und begann mit dem Ticketverkauf an den treuen Kundenstamm. Das Resultat: Im ersten Jahr nach der Übernahme, 2017, hatte die ÖBB europaweit bereits 1,4 Millionen Kunden im Nightjet. Im Folgejahr waren es 1,6 Millionen, ein Anstieg von 14 Prozent. 13 neue Züge sind bereits bestellt und sollen ab Frühjahr 2022 auf die Schienen rollen.

Vorteile und Nachteile

Die Vorteile wurden teils schon genannt: Sie kommen in der Früh ausgeruht an, zahlen im Gegensatz zum Flieger keine Gepäckgebühr und sobald es wieder hell ist, genießen Sie die Landschaft.

Erster Wermutstropfen: Die Kosten. Eine Fahrt von Wien nach Rom kostet Sie im Liegewagen 119 Euro, im Schlafwagen 159 Euro (ÖBB Nightjet, Stand: Oktober 2019). Einen Billigflug bekommen Sie mit etwas Glück um 20 Euro.

Zweiter Wermutstropfen: Der Flug dauert unter zwei Stunden, die Zugfahrt hingegen vierzehn. Viel Zeit, um die Landschaft zu genießen.

Gut zu wissen

In Rom waren Sie schon? Die Russischen Eisenbahnen (RZD) bieten Nachtzüge an, die Sie bis nach Moskau bringen.

Nachtzüge: Besonders interessant für Geschäftsreisende

Verreisen Sie demnächst geschäftlich? Gerade dann ist der Nachtzug für Sie spannend, denn vermutlich müssen Sie zu Ihrem Termin morgens erscheinen. Das gibt Ihnen die Wahl zwischen einem Hotelaufenthalt oder einem frühen Flug um fünf Uhr morgens.

Ein Nachtzug ist die luxuriöse dritte Wahl: Weder müssen Sie einen extra Abend für Ihren Businesstrip verplanen, noch sich tief in der Nacht aus dem Bett rollen.

In der Vergangenheit war es unter anderem die Vorstellung, in einem Vierer-Schlafabteil zu liegen, die Geschäftsreisende zu Tagesfahrten und Kurzflügen getrieben hat. Inzwischen sind viele Wägen modernisiert, für Extra-Luxus nehmen Sie eine Einzelsuite mit eigenem Bad. 

In den Umweltschutz rollen

Ein großes Argument für Nachtzüge: der Klimaeffekt. Die schlechte Klimabilanz von Flügen ist inzwischen so weit bekannt, dass sich der Begriff “Flugscham” etabliert.

Schon gewusst?

Der Effekt von “Flugscham” lässt sich vorsichtig in Zahlen fassen. In Schweden fiel die Zahl der Flugreisenden im ersten Quartal 2019 um 14 Prozent gegenüber dem Vorjahr, die Zahl der Zugreisenden stieg um zehn Prozent. Wie viel davon mit der Klimadebatte zusammenhängt, lässt sich nicht genau sagen.

Der Nightjet der ÖBB ist besonders umweltfreundlich: Er fährt zu 100 Prozent mit grünem Strom. Im Vergleich zu einem Flug auf gleicher Strecke verbrauche der Fahrgast so 31 Mal weniger CO2, rechnet die ÖBB.

Freie Fahrt? Nicht immer

Vor welchen Herausforderungen stehen Nachtzüge? Einmal bleibt die Frage, wie sehr Kunden tatsächlich auf Billigflüge verzichten wollen. Ist “Flugscham” nur ein kurzlebiges Nischen-Phänomen oder wird es sich langfristig auf die Wirtschaftlichkeit der Bahn auswirken? Die ÖBB räumt ein, dass sich der Umweltgedanke noch nicht so recht im Buchungsverhalten widerspiegelt.

Die zweite große Frage: die Infrastruktur. In einigen Ländern Westeuropas fehlen Lokomotiven oder passende Stromsysteme, um einen Nachtzug der ÖBB zu betreiben. Dabei ist gerade die Fahrt von einem Land in ein anderes die Stärke der Nachtzüge.

Zu guter Letzt sind Nachtzüge anfälliger für Verspätungen, denn der Güterverkehr hat nachts Vorrang. Je mehr Güterverkehr auf europäischen Schienen stattfindet, umso mehr Verspätungen könnten auf den Nightjet lauern.

Eine rosige Zu(g)kunft

Doch noch strahlt die Sonne hell auf die Nachtzüge. Umfragen des Schweizer Verkehrsclubs (SVC) zeigen, dass das Interesse an Nachtzügen in der Schweiz steigt. Die Schweizer Bahnen prüfen jetzt eine vertiefte Kooperation mit den ÖBB.

In Deutschland hält die Bahn an ihrer Entscheidung, Nachtzüge fallen zu lassen, fest – nur eben nicht so ganz. Sie will ihr Angebot an Nachtfahrten mit konventionellen ICE- und Intercity-Zügen ausbauen und unterstützt die ÖBB bei ihrem Deutschlandgeschäft.

Die schwedische Regierung arbeitet an einem Konzept für ein Nachtzugnetz über mehrere europäische Städte. Auch in Norwegen und Dänemark gibt es Rufe danach, mitzuziehen. 

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