Neuroplastizität: Was Hänschen nicht lernt...
…. lernt Hans auf andere Weise. Der Lernforscher und Psychiater Dr. Manfred Spitzer weiß, warum.
Wer beginnt Geige zu spielen, wird merken, dass seine Finger nach einiger Zeit gelenkiger werden. Aber nicht nur seine Motorik verändert sich. Hirnforscher haben herausgefunden, dass sich dabei auch das Gehirn verändert. So werden die Areale, die für die feinmotorische Steuerung zuständig sind, stärker gefordert und bilden neue Nervenverbindungen. Das Gehirn kann je nach Anforderungen entsprechend umgebaut werden. Neuroplastizität nennt man diese Fähigkeit mit einem Fachbegriff.
Zeit für neue Fähigkeiten: Wie funktioniert Self-Learning zu Hause?
Früher ging man davon aus, dass sich unser Denkorgan nur bis zum 30. Lebensjahr weiterentwickelt. Mittlerweile weiß man, dass Gehirnveränderungen möglich sind, so lange wir leben, auch im hohen Alter. Selbst mit 80 lassen sich Sprachen, Musikinstrumente, Tanzen oder andere Fertigkeiten lernen. Manchen fällt dies allerdings leichter als anderen. Woran das liegt, erforscht der Psychiater Manfred Spitzer seit vielen Jahren.
Das Gehirn verändert sich ein Leben lang
Bis zum dritten Lebensjahr bildet sich ein Großteil der Nervenzellen des Gehirns und verknüpft sich miteinander über Synapsen. Während dieser Zeit nehmen Kinder unglaublich viele neue Reize auf, wodurch sich auch unzählige ebenjener Synapsen bilden. Zwischen dem dritten und zwölften Lebensjahr werden einige Verbindungen durch Lernerfahrungen gestärkt, andere, die nicht gebraucht werden, werden eher abgebaut. Bis zum jungen Erwachsenenalter festigen sich die Verbindungen zwischen benachbarten Gehirnregionen, sodass der Austausch untereinander besser funktioniert.
Als Nächstes werden auch entfernter liegende Gehirnregionen über lange Nervenbahnen, die von einer Isolierschicht (Myelin) umgeben sind, miteinander verbunden. Diese Hülle ermöglicht eine besonders schnelle Nervenleitgeschwindigkeit. Der Mensch kann nun rasch und komplex denken. Ein Zustand, der ungefähr bis zu seinem 60. Lebensjahr anhält.
Sich die Welt aneignen
Wie bereits erwähnt saugen Kinder wie die sprichwörtlichen Schwämme alles auf, was sie interessiert. In jungen Jahren ist das eigentlich alles: „Kinder lernen durch ihre Umgebung, mit allen Sinnen gleichzeitig, und genau das müssen sie auch tun, um sich die Welt aneignen zu können. Wenn man in dieser Phase Kinder vor einen Bildschirm setzt, führt das dazu, dass man sie der Lernerfahrungen, die für ihre Entwicklung entscheidend sind, beraubt. Und dieser Effekt ist auch unabhängig vom Programm. Es kommt also nicht darauf an, dass ein Kind die richtigen Sendungen sieht“, weiß Manfred Spitzer, und er rät: „Wenn Sie ein Kind in einen Wald bringen, merken Sie sofort, dass es hier eine Umgebung hat, mit der es gut klar kommt, weil es sich freut, weil es Spaß hat, weil es sich, in sich selbst versunken, die Welt aneignet. Sie brauchen nicht zu sagen: Jetzt lerne das mal. Das macht das Kind automatisch, von ganz allein.“
Viel hilft viel
Das Gehirn mit einem Computer zu vergleichen, greift zu kurz, weil es eher einem Muskel gleicht. Denn es lässt sich trainieren, und wer sein Denkorgan trainiert, verbessert dabei seine Leistungsfähigkeit sogar auf allen Gebieten. Denn während die Festplatte eines Computers irgendwann voll ist, ist unser Gehirn unendlich aufnahmefähig und kann umso leichter Wissen speichern, je mehr Wissen es bereits enthält. Manfred Spitzer: „Je mehr Sie wissen, desto besser können Sie in dem Bereich, in dem Sie etwas wissen, googlen.“ Oder anders gesagt, wer sich wenig Wissen angeeignet hat und dann eine Suchmaschine verwendet, kann schwieriger unterscheiden, ob die Ergebnisse richtig oder falsch, unwichtig oder relevant sind. Manfred Spitzer: „Nur das bereits Erlernte führt uns recht sicher durch den Pfad des (nicht nur digitalen) Wissensdschungels.“
Anders lernen im Alter
Das gilt auch für das Lernen im Alter. Manfred Spitzer: „Da Lernen zu einem nicht geringen Teil im Schaffen von internen Verbindungen besteht, haben ältere Menschen beim Lernen sogar einen Vorteil! Bereits vorhandenes Wissen hilft, neues Wissen zu strukturieren, einzuordnen und zu verankern.“ In einem anderen Punkt ist Hans gegenüber Hänschen allerdings im Nachteil: der Geschwindigkeit.
Mit zunehmendem Alter nimmt die Myelinschicht der Nervenbahnen ab und damit verringert sich die Nervenleitgeschwindigkeit, im übertragenen Sinn entsteht die „lange Leitung“. Denkprozesse und das Bilden von Assoziationen werden langsamer.
Der Pianist Arthur Rubinstein wurde einmal gefragt, warum er sich traue, mit über 80 Konzerte zu geben, in denen er alle Stücke auswendig spiele. Rubinstein antwortete, er schränke sein Repertoire ein, sodass er die verbliebenen Stücke besser lernen könne. Er würde zwar die schnellen Passagen durch nachlassende Beweglichkeit der Finger nicht mehr so schnell spielen können, aber auch dafür hätte er einen Ausweg gefunden. Er spiele die vorangehenden Passagen betont langsam, damit die folgenden umso schneller wirkten. Sein Erfolgsrezept im Umgang mit seinen nachlassenden Fähigkeiten lautete: Auswählen, optimieren und kompensieren.
Zur Person
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer ist Psychiater, Gehirnforscher und ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm. Seit Jahrzehnten befasst er sich mit dem Einfluss digitaler Medien auf das Lernen und die Gehirnentwicklung und vermittelt sein Wissen ebenso fundiert wie unterhaltsam. Eines seiner bekanntesten Werke ist „Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ (Droemer Verlag 2012). Zusammen mit dem Kinderarzt Norbert Herschkowitz hat er die Bücher „Wie Kinder denken lernen“ (mvg Verlag 2019) und „Wie wir denken und lernen“ (mvg Verlag 2020) verfasst.