Krisensituation: Beziehungen unter Druck
Das hilft und stärkt uns an diesen ganz besonderen Feiertagen im 2. Lockdown.
Aktuell spielt sich der Alltag für viele auf engstem Raum ab. Beziehungen sind aufgrund des Lockdowns besonders gefordert. Doch nicht nur Paare und Familien, auch Alleinstehende brauchen besondere Strategien.
Was uns jetzt besonders zu schaffen macht, sei „das Thema von Nähe und Distanz“, schickt Dr. Daniela Renn, Klinische und Gesundheitspsychologin in Schwaz in Tirol, voraus. „Leben mehrere Personen auf engem Raum zusammen, dann geht es um zu viel Nähe. Lebt jemand allein, dann geht es um zu wenig Nähe.“
Berührungen sind essenziell
Menschen, die allein leben, vermissen die Nähe zu anderen zum Teil schmerzlich. Zwar gibt es die Möglichkeit, etwa über (Video)Telefonie und soziale Medien in Kontakt zu bleiben. „Das ersetzt aber nicht die persönliche Anwesenheit einer Person oder die Möglichkeit, jemand anderen zu spüren“, erklärt Renn.
Berührungen sind elementar für unser Wohlbefinden: Das beginnt beim freundschaftlichen Händeschütteln und reicht bis zu den Streicheleinheiten des Partners. Dabei werden Wohlfühlhormone wie das „Kuschelhormon“ Oxytocin ausgeschüttet.Fallen diese Berührungen nun weg, kann das Anspannungen und Stress verstärken. Angenehme Sinneserlebnisse - ein duftendes Schaumbad, das Einreiben des Körpers mit einem Massageöl, das Auflegen einer Wärmeflasche, das Hineinkuscheln in das eigene Bett - können den Wegfall zum Teil kompensieren.
Familien mit Kleinkindern besonders gefordert
Einen ganz anderen Effekt erleben Familien und Paare, die derzeit besonders intensiven Kontakt haben. „Wenn man zu mehrt in einem Haushalt lebt, geht es um die Distanz“, erklärt die Expertin. „Jeder braucht seinen Raum und eine Rückzugsmöglichkeit – das fängt beim Baby an und geht bis zum älteren Menschen.“ Am meisten gefordert sind Eltern mit Kleinkindern, da diese noch maximal von den Erziehungsberechtigten abhängig sind.
Gute Strukturen geben Halt
Sind außerdem die räumlichen Ressourcen knapp, muss man sich gut organisieren: Derjenige, der zu arbeiten hat, sollte nach Möglichkeit ein Extra-Zimmer nutzen und nicht im Wohnzimmer arbeiten, wo das soziale Leben stattfindet. Das verschafft Ruhe und einen Rückzugsraum für den Arbeitenden und die anderen Familienmitglieder.
Auch die Ausarbeitung eines detaillierten Wochenplans legt die Psychologin nahe: „Am besten versucht man, von Montag bis Sonntag von 8 bis 20 Uhr in einem Kalender einzutragen, wer wann was macht“, präzisiert sie. Zum Beispiel: Um 8 Uhr frühstückt die Familie gemeinsam, ab 9 Uhr macht der Sohn Hausaufgaben und die fünfjährige Tochter malt, die Mutter arbeitet und der Vater bringt den Müll hinaus. „Strukturen helfen uns allen, uns zu orientieren und uns festzuhalten.“ Auch Auszeiten für jeden einzelnen könnten festgehalten werden: Um vier Uhr am Nachmittag zieht Mama sich für zwei Stunden zum Lesen zurück, um 18 Uhr geht Papa eine halbe Stunde laufen.
Und wie schaffen Alleinlebende es, ihr Plansoll zu erfüllen? Durch den virtuellen Austausch mit Freunden oder Familie, sagt die Expertin. „Man könnte Freunde beauftragen nachzufragen, ob ein Plan oder Projekt gut ausgegangen ist.“
Dichtestress fördert Spannungen
Tendenziell spiegelt sich die Art und Weise, wie Menschen mit üblicherweise Herausforderungen umgehen, auch in der aktuellen Situation wider. Extrovertierte Menschen mit vielen sozialen Kontakten kommen mit der häuslichen Isolation womöglich schlechter zurecht als jene, die ohnehin viel Zeit mit sich selbst verbringen. Psychologen und Psychologinnen befürchten, dass es in der akuten Situation vermehrt zu Streit oder gar Gewalt kommen könnte. Auf engem Raum kommt es zum „Dichtestress“, der zu zwischenmenschlichen Konflikten führen kann.
Bewegung als Stressventil
Was kann man tun, wenn man merkt, dass man zunehmend gereizt oder sogar aggressiv wird? Als wichtigste Präventionsmaßnahme nennt Renn Bewegung. „Auch wenn im Moment die Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt sind: Frau und Mann und Kinder können zusammen oder getrennt eine Runde spazieren gehen.“ Wenn das für den Stressabbau nicht genügt, geht man zwei Runden in schnellem Tempo. „Auch in Konfliktsituationen ist zu empfehlen bewusst hinausgehen und im wahrsten Sinn des Wortes Luft schnappen.“ Nicht nur für die Eltern, auch für Kinder ist ausreichend Bewegung wesentlich, um sich ausgeglichen und wohl zu fühlen. Miteinander toben, tanzen oder turnen stärkt das Gemeinschaftsgefühl.
Reden Sie über Gefühle
Wenn der Stresspegel hoch ist, sind außerdem Gespräche hilfreich: Rufen Sie einen Freund oder eine Freundin an und drücken Sie Ihre Gefühle aus. Manchen hilft es, die Gefühle niederzuschreiben oder kreativ zu werden, um damit zurande zu kommen. Als Paar oder Familie könnte man regelmäßig kleine Krisensitzungen einberufen: Was beschäftigt uns derzeit? Welche Ideen, welche Wünsche hat jeder einzelne? Sprechen Sie Ärger an, noch bevor die Situation eskaliert.
Streiten und Versöhnen
Doch selbst, wenn es zu einem Streit zwischen dem Elternpaar kommt, kann man das als Chance nutzen. „Kinder könnten daraus lernen, indem sie sehen: Aha, meine Eltern streiten manchmal und werden laut, aber sie schaffen es dann auch wieder, sich zu vertragen.“ Eine andere Möglichkeit sei, eine Auseinandersetzung in die Abend- oder die frühen Morgenstunden zu verschieben, wenn die Kinder schlafen. Droht eine Situation zu eskalieren, sollten die Betreffenden sich rasch Hilfe holen.
Tipps zur Prävention und für den Akutfall
Die aktuelle Ausnahmesituation kann für die Psyche und Beziehungen sehr belastend sein. Daniela Renn, Leiterin des Berufsverbands Österreichischer PsychologInnen (BÖP) in Tirol, empfiehlt folgende Anregungen:
Planen Sie Ihren Tag möglichst genau!
Geplantes Handeln beugt Kontrollverlust und Hilflosigkeit vor. Planen Sie mit Ihrem Kind klare Lern- und Freizeiten. Struktur hilft gegen Chaos, gibt Sicherheit und stärkt in Stresssituationen.
Schaffen Sie Rückzugsräume
Ermöglichen Sie Rückzugsmöglichkeiten, um Konflikte zu verhindern bzw. zu reduzieren.
Definieren Sie klar abgegrenzte Stunden, in denen sich jede/r alleine beschäftigt.
Bewegen Sie sich!
Sport ist auch auf engem Raum möglich: Videos im Internet liefern Anregungen und Trainingsprogramme.
Üben Sie sich in Geduld!
Sind Sie nachsichtiger als sonst, sich selbst und den anderen gegenüber! Es ist durchaus eine Herausforderung für alle Familien.
Erkennen und benennen Sie Gewalt!
Gewalt hat viele Formen: Anschreien, Abwerten, längeres Ignorieren. Reagieren Sie, wenn Sie merken, dass Sie oder jemand im Umfeld vollkommen überfordert ist und in der Folge beginnt, gewalttätig zu werden.
Holen Sie sich professionelle Hilfe
Wenden Sie sich bei Bedarf an die entsprechenden Hotlines oder Krisentelefonen wie der
BÖP Helpline unter Telefon: 01/504 8000.
Informationsblatt des Berufsverbands Österreichischer PsychologInnen für die Krisenzeit