Wohltat Stille
Dass Lärm ein Umweltgift ist, ist uns bewusst. Dass Stille – die auch frei von leisen Gesprächen oder Musik ist – sogar heilsame Wirkung besitzt, weniger.
Je lauter und hektischer unsere Umgebung wird, je stärker die digitale Welt in Gestalt von Handys und Tablets in unseren Alltag einzieht, desto größer wird bei vielen von uns die Sehnsucht nach Stille. In Zügen gibt es handyfreie Abteile, in Wellness-Hotels Flüsterzonen, und wer es noch stiller möchte, sucht Zuflucht in christlichen Klöstern oder buddhistischen Schweige-Retreats . Und das ist gut so. Denn wenn die Geräuscheflut zum „Still-Stand“ kommt, können die wahrhaft großen Dinge geboren werden, wie schon der schottische Philosoph Thomas Carlyle sagte.
Aufatmen für die Seele
Es geht sogar viel einfacher: Bereits nach wenigen Minuten Stille sinkt der Blutdruck, der Herzschlag verlangsamt sich, die Atmung wird tiefer, kurzum: der Stress schwindet. Zusätzlich werden im Gehirn neue Zellen gebildet und ein spezielles Areal (Default Mode Network) aktiviert, das für Kreativität und (Selbst-)Reflexion verantwortlich ist. „In der Stille lernt man, sich selbst besser kennen, man entkommt sich nicht so einfach wie unter vielen Ablenkungen“, weiß die Journalistin und Autorin Micky Kaltenstein. Und weiter: „Stille ist so etwas wie ein Aufatmen für die Seele. Da dehnt sich etwas aus und findet gleichzeitig zur Ruhe. Das ist äußerst erholsam – und fördert nach einiger Zeit der Ruhe wieder neue Ideen. Ein herrlicher Prozess also.“ Kaltenstein hat dem Thema Stille ein ganzes Buch gewidmet und darin neun Menschen porträtiert. So unterschiedlich ihre Interviewpartner sind, eines haben sie gemeinsam: Stille ist ein wichtiger Teil ihres Lebens.
Verschiedene Wege zur Still
Menschen, die regelmäßig in der Stille auftanken, zu sich kommen, sich zentrieren oder meditieren , schaffen es im hektischen Alltag besser, sich eine innere Stille zu bewahren. Sie strahlen Ruhe aus, so wie ein von der Sonne beschienener Felsen abends die Wärme abstrahlt.
Eine andere Möglichkeit, innere Stille zu finden, ist die Vorstellungskraft, konstatiert Kaltenstein: „Eine Gesprächspartnerin hat mir erzählt, dass sie sich einfach einen bestimmten Platz in einem Hochtal vorstellt. Jemand anderer erinnert sich an den Ort, an dem er sonst meditiert. Es hat also jeder seine eigenen Tricks und Werkzeuge entwickelt.“
Stille als Herausforderung
Je lauter und hektischer die Umwelt, desto schwerer fällt manchem allerdings der Wechsel zur Stille: „Wer die Stille kaum kennt, tut sich bestimmt mit einem Spaziergang im Wald leichter als mit regungslosem Sitzen in Stille. Ich würde daher zuerst in Bewegung bleiben und die Geräusche möglichst verringern. Wer sich damit wohlfühlt, kann es mit Sitzen und Beobachten versuchen. Man muss nicht in den Meditationsraum gehen – eine Wiese, ein Park, ein Teich sind auch wunderbare Orte für die ersten Begegnungen mit der inneren Stille. Die Dinge dürfen leicht gehen – man muss sich nicht plagen mit der Stille“, so Kaltenstein
Wie schwierig der Umgang mit Stille sein kann, schildert auch einer ihrer Interviewpartner, der Kapuzinermönch Bruder Bernd: „Wenn man sich regelmäßig der Stille aussetzt, geschieht über einen langen Zeitraum gesehen etwas. Das ist für Leute, die ins Kloster kommen, eine große Herausforderung. Die Stille kann auch unangenehm sein – das hängt von meiner persönlichen Verfassung ab. Es ist tageweise sehr unterschiedlich. Aber zu bleiben und das auszuhalten, ist im Nachhinein immer eine Vertiefung.“
Stille – 9 Porträts, Verlag Anton Pustet 2019