Lesen öffnet Welten:
Wie Bücher Kinder auf das Leben vorbereiten
Kinder und Jugendliche, die gut und viel lesen, tun sich nicht nur in der Schule leichter, sondern auch später als Erwachsene. Warum das so ist und wie Eltern Kinder fürs Lesen begeistern können
Gute Lesefähigkeiten benötigen wir – wenig überraschend – in fast allen Lebenszusammenhängen des Alltags. Denn überall begegnen uns Menschen Texte – gedruckt, auf Bildschirmen, auf Formularen oder sogar als Graffiti an Hauswänden. Nur wer gut lesen kann, ist in der Lage, sich eigenständig zu informieren, sich zu orientieren, sich mit anderen schriftlich auszutauschen und zum Vergnügen in eine Geschichte einzutauchen, weiß Leseforscherin Prof. Dr. Simone C. Ehmig von der „Stiftung Lesen“ in Mainz.
Studien zeigen zudem enge Zusammenhänge zwischen den Lesefähigkeiten und Gesundheitskompetenz, finanzieller Grundbildung und politischer Beteiligung. Erwachsene, die nicht gut lesen können, scheitern im Alltag zum Beispiel an Fahrkartenautomaten oder Anzeigetafeln. Lesen ist also die zentrale Voraussetzung für den eigenen Alltag, aber auch für Bildung. Kinder und Jugendliche benötigen Lesepraxis, um die nötige Kompetenz zu entwickeln, mit der sie sich in allen Schulfächern Inhalte gut erschließen können – denn auch Mathematikaufgaben oder physikalische Experimente müssen verstanden werden. Insgesamt lässt sich sagen, dass Kinder, die früh gute Lesefähigkeiten erwerben, selbstbewusster im Umgang mit allen Medien und Anforderungen im Alltag aufwachsen und sich beispielsweise auch sicherer im Internet bewegen, weil sie Wichtiges von Unwichtigem und Richtiges von Falschem oder Verdächtigem besser unterscheiden können.
Begeisterung fördern, statt zum Lesen zwingen
Die Begeisterung für das Lesen entsteht durch positive Erfahrung – wenn ein Kind etwa in interessante Geschichten eintaucht und spannende Charaktere kennenlernt. Eltern können sich dabei die natürliche Begeisterung von Kindern für Neues zunutze machen. Eine wichtige Regel ist aber, sie niemals zum Lesen zu zwingen oder das Lesen gegen andere digitale Medien auszuspielen. Lesen zur Bedingung zu machen, ein Videospiel spielen zu dürfen, wäre grundfalsch. Stattdessen sollten wir Kindern vermitteln, dass alle Medien auf ihre Weise eine Funktion und einen spezifischen Nutzen haben – und dass das eben auch für Bücher oder Zeitschriften gilt. Zum Beispiel können wir mit Kindern ein Buch lesen, das Grundlage einer Verfilmung war, und dabei entdecken, wie viel mehr Details dort zu finden sind. Diese Methode funktioniert auch umgekehrt, wenn wir den Film nach dem Buch schauen und erkennen, dass wir uns Protagonist:innen beim Lesen ganz anders vorgestellt hatten.
Grundsätzlich lässt sich Begeisterung für das Lesen mit Themen wecken, die die Kinder beschäftigen und interessieren: „Ihre Wünsche und Interessen sind wichtig und nicht die von Eltern oder betreuenden Personen“, betont Leseforscherin Ehmig. Es müssen übrigens nicht immer Bücher und lange Geschichten sein: Auch Kurzgeschichten, Comics oder eine Kinderzeitschrift können das Interesse wecken helfen. Wichtig ist jedenfalls, das Lesen und Lesemedien im Alltag zu verankern und zum selbstverständlichen Bestandteil des Lebens zu machen – und wenn es manchmal nur für ein paar Minuten am Tag ist.
Vorlesen ist eine ideale Vorbereitung
„Der Zugang zum Lesen beginnt eigentlich mit der Geburt“, erklärt Ehmig: „Erste Buchgeschenke für frischgebackene Eltern lassen Lesemedien genauso selbstverständliche Teile der familiären und kindlichen Welt werden wie Kuscheltiere und Windeln.“ Eine besondere Rolle spielen gemeinsames Betrachten von Bilderbüchern, Erzählen und Vorlesen von Geschichten. Die Sprache, die bei dieser Zuwendung im Spiel ist, prägt sich den Kindern unmittelbar ein und verbindet das Vorlesen zudem mit einem guten Gefühl. Kinder, denen zu Hause regelmäßig vorgelesen wird, lernen später leichter selbst lesen. Sie bringen sprachlich und mit den Inhalten, die sie kennengelernt haben, viele Voraussetzungen mit, die Kindern ohne Vorleseerfahrung fehlen.
Zudem ermöglichen die Geschichten Kindern früh, sich in Lebenssituationen, Schicksale und Verhaltensweisen hineinzuversetzen, die sie aus eigenem Erfahren noch gar nicht kennen können, aber über Figuren in den Geschichten stellvertretend miterleben. In Verbindung mit dieser, eigentlich immer positiv erlebten, gemeinsamen Zeit mit den Eltern oder Bezugspersonen entstehen somit auch Grundlagen für Persönlichkeitsentwicklung und soziale Kompetenzen wie Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn.
Menschen mit schlechter Lesekompetenz tun sich im Alltagsleben in vielerlei Hinsicht schwerer als jene, die schon als Kinder mit Vorlesen und Lesen aufgewachsen sind. Demnach ist Lesekompetenz in gewisser Weise eine Lebenskompetenz. Wichtig ist jedoch, dass wir Kinder nicht zum Lesen zwingen und Bücher nicht in Konkurrenz zu digitalen Medien schicken. Vielmehr sollten wir uns die Interessen und die Neugierde von Kindern zunutze machen, um sie zum Lesen zu animieren. Damit fördern wir nicht nur die sprachlichen Fähigkeiten, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung und Sozialkompetenz.
Zur Person
Prof. Dr. Simone C. Ehmig leitet seit 2009 das Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen in Mainz. Die studierte Kommunikationswissenschaftlerin leitet Grundlagenstudien zur Situation des Lesens und Vorlesens in Deutschland und ist für die wissenschaftliche Fundierung und Begleitung der Programme und Kampagnen der Stiftung Lesen zuständig.