Pandemiemüde? So finden wir zurück in den Alltag
Die Pandemie hat überall ihre Spuren hinterlassen. So auch in unserem Verhalten und Erleben. Notfall- und Arbeitspsychologe Johann Beran gibt Impulse für den Weg zurück in ein neues, altes Leben.
„Während der Pandemie hat sich gezeigt, dass wir keine Erfahrung damit haben, wie wir mit solch belastenden Situationen gut umgehen können“, stellt der Notfallpsychologe Johann Beran fest. Die Folge waren eine Zunahme von psychischen Störungen wie Depressionen oder Panikattacken und vor allem Ängsten: „Wenn ich zu wenig Wissen habe, habe ich zu wenig Handlungskompetenz. In schwierigen Zeiten heißt das, ich gehe in die Hilflosigkeit, und Hilflosigkeit macht Angst. Häufig waren das auch Menschen, die für gewöhnlich keine Angst haben. Und bei solchen, die ohnehin dazu tendieren, schnell in die Angst zu gehen, waren die Ängste in der Pandemie noch stärker, und sie reagierten häufig mit Schlafstörungen. Durch den Schlafmangel wurde die Erholungsqualität geringer, der Mensch schwächer und noch empfänglicher für Ängste oder angstauslösende Reize.“ Eine Kaskade, die immer heftiger wird, je länger sie dauert.
Die Angstkaskade stoppen
Allerdings gibt es Schritte, um sie zu unterbrechen. Beran: „Eine Verhaltensweise, die ich empfehle, um nicht noch weitere Ängste zu schüren, ist aufzuhören, Nachrichten zu sammeln. In den meisten Fällen bieten sie ohnehin nur mehr vom selben. Speziell in Zeiten, in denen man empfindlich ist und vor allem abends vor dem Schlafengehen, sollte man sich nicht mit belastenden Themen befassen. Ebenso hilfreich ist es auch, auf Krimis oder Thriller zu verzichten, weil auch diese unangenehme Gefühle massiv verstärken - unser Gehirn unterscheidet nicht, was aus einem Film oder der Realität kommt. Besser man wählt „leichte Kost“ und sieht sich Heiteres, Romanzen oder Musicals an.
Ein weiteres gutes Mittel um Ängste und Spannungen abzubauen, ist hinauszugehen und sich zu bewegen. Dadurch wird nicht nur Stress reduziert. Das Tageslicht fördert auch die Produktion von Vitamin D, und dieses ist wiederum an der Ausschüttung von Wohlfühlhormonen beteiligt.“
Apropos Hormone: Die Einschränkung der Möglichkeit, andere Menschen zu treffen, bedeutete auch, auf Berührungen verzichten zu müssen. Doch gerade diese sind wichtig für die Ausschüttung von Oxytocin – dem Hormon, das Geborgenheit vermittelt. Auch für diese Situation hat Johann Beran einen praktischen Tipp: „Wenn ich nicht die Möglichkeit habe, jemanden zu berühren oder mir eine Massage zu gönnen, kann ich mich selbst beruhigen durch den Kontakt mit einem Kuscheltier, einem Haustier oder durch Streicheln mit dem Badeschwamm beim Baden oder Duschen.“
Kleine Schritte statt riesige Sprünge
Nach und nach werden nun die gesetzlich verordneten Einschränkungen zurückgenommen und damit ein Leben, wie wir es vor der Pandemie geführt haben, langsam wieder möglich. Wie aber motiviert man sich, vorgegebene Maßnahmen weiterhin mitzutragen und Geduld aufzubringen, wenn die Sehnsucht nach der alten Freiheit groß ist?
„Motivieren funktioniert immer nur über Verlockung und Verführung und nie über Ernsthaftigkeit und Angst“, erklärt Beran. „Wenn ich jemanden motivieren möchte, muss ich die Belohnung sichtbar und greifbar machen, aber nicht als eine große Karotte, sondern als viele kleine Belohnungen, eine Serie von Karotten. Wenn ich einen Weg von 0 bis 100 habe, dann habe ich viele kleine Zwischenstationen und ich muss schauen: Welcher kleine Schritt macht mir Freude, wenn der große Schritt vielleicht noch nicht möglich ist.“
Mit Genuss zurück in die Normalität
Ein anderer Weg, auch emotional in die Normalität zurück zu finden, besteht in Achtsamkeit und Genuss. „Konkret bedeutet das, nicht einfach nur ins Kaffeehaus zu gehen, sondern den Kaffeehausbesuch im Sinne der Achtsamkeit mit möglichst vielen Details wahrzunehmen und zu genießen“, verdeutlicht Beran, „zusätzlich können diese vielen kleinen Teile unglaublich große Impulsgeber sein. Der Duft des Kaffees, der Geschmack von Kuchen, der Lärm von Gesprächen um mich herum: Alles das, worauf ich ein Jahr lang verzichten musste. Je besser ich diese kleinen Details wahrnehme, desto mehr Motivationsfaktoren habe ich, denn in jedem Detail steckt ein eigener Motivationsfaktor.“
Das muss nicht das Kaffeehaus, sondern kann alles sein, was Freude macht, ergänzt der Experte. „Eine sportliche Betätigung, das Fitnesscenter, das wieder geöffnet ist oder das Konzert, das ich wieder besuchen kann - und natürlich immer die Natur, in die ich hinausgehen kann.“
Zur Person:
Johann Beran ist Notfallpsychologe und Arbeitspsychologe in Wien. Neben seiner erfolgreichen Wirtschaftskarriere begann er Psychologie zu studieren und arbeitete in unterschiedlichen Bereichen klinischer Einrichtungen. Er war im Vorstand des Berufsverband Österreichischer PsychologInnen (BÖP) und gilt als Mitinitiator von Notfallpsychologie und Arbeitspsychologie in Österreich. Sein Hauptaugenmerk galt stets, Menschen in schweren emotionalen Krisen zu unterstützen.